Es war ein kalter Dezemberabend, kurz vor Heiligabend, als der alte Mann wie jeden Tag vor den großen Eingangstüren des Kaufhauses saß. Tiefe Falten zeichneten sein Gesicht, in dem das Leben seine Spuren hinterlassen hatte. Seine Kleider, Haare und Haut waren schmutzig und wer ihm zu nahe kam, wurde von seinem Geruch schnell wieder auf Abstand gehalten.
Ihm war kalt bis auf die Knochen, seine Hände waren von der klirrenden Kälte gerötet und umklammerten zitternd einen Pappbecher, in den hin und wieder einer der Vorbeieilenden eine Münze hineinwarf. Die meisten Menschen nahmen ihn jedoch ohnehin gar nicht wahr und blickten durch den alten Mann einfach hindurch, als sei er aus Glas – viel zu beschäftigt waren sie damit, die letzten Geschenke für das Weihnachtsfest zu besorgen und durch die Geschäfte der überfüllten Einkaufspassage zu hasten.
Auch der alte Mann kannte einmal ein Leben wie dieses, in Wohlstand und unbeschwerter Sorglosigkeit. Doch das Leben hatte ihm übel mitgespielt und er hatte viele Schicksalsschläge ertragen müssen. Irgendwann hatten ihn seine Kräfte verlassen und er verlor nicht nur seine Arbeit, seine Wohnung und seine Familie, sondern auch die Hoffnung und Zuversicht.
Plötzlich bemerkte er einen kleinen Jungen, der an der Hand seiner Mutter einige Meter von ihm entfernt stand und ihn anstarrte. So bewusst hatte ihn schon lange niemand mehr betrachtet und plötzlich schämte er sich für den Anblick, den er bieten musste. Nachdenklich legte das Kind den Kopf schief und schien intensiv nachzudenken. Dann flüsterte es seiner Mutter etwas ins Ohr und schließlich gingen beide auf den alten Mann zu. „Weißt du“, sprach das Kind ihn an. „Ich darf mir heute etwas aussuchen.“ Der Alte nickte und murmelte: „Lass mich raten – du hast bestimmt ganz viele Wünsche.“ Das Kind erwiderte: „Du auch?“ Nachdenklich sah der Alte das Kind an. Dann sagte er leise: „Ein heißer Kaffee und ein warmer Ort zum Schlafen. Mehr brauche ich nicht.“
Das Kind lächelte ihn an und warf ihm eine Münze in den Becher. Dann folgte es seiner Mutter in das Shopping-Center. Lange blickte der Alte dem Kind nach. Ohne es zu wissen, hatte es ihm ein Geschenk gemacht. Es hatte ihn wahrgenommen. Unter all dem Schmutz hatte es einen Menschen erkannt.
Etwa eine Stunde später tippte ihm plötzlich jemand auf die Schulter. Vor ihm stand der kleine Junge, voll beladen mit Einkaufstüten. „Ich habe mir was aussuchen dürfen“, strahlte er. „Dann wünsche ich dir viel Spaß mit deinen Sachen“, erwiderte der Alte und lächelte dem Kind zu. „Nein, ich wünsche dir viel Spaß mit deinen Sachen“, antwortete das Kind und legte einen warmen Schlafsack und eine dicke Jacke vor ihm ab. Verlegen schaute der alte Mann die Mutter an. Doch diese nickte. „Ihnen heute ein wenig Wärme zu schenken, war alles, was sich mein Kind heute ausgesucht hat. Frohe Weihnachten.“ Gerührt schaute der Alte den beiden noch lange hinterher, bis sie in der Menschenmenge verschwanden...
Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie eine friedliche, gesegnete Weihnachtszeit und ein erfüllendes, gesundes neues Jahr 2022.